Was Familien zusammenhält

Es gibt unzählige Abhandlungen, Schulen, Theorien und so etwas darüber, was der Klebstoff oder der Kitt ist, der Familien zusammenhält.

Na klar, die gemeinsame biologisch-genetische Abstammung. Aber wäre es nur das, könnte mit Einsetzen des Laufens bald jedes Menschentier seinen eigenen Weg gehen. Doch das ist meist nicht der Fall.

Gedanken darüber, welche Kräfte so ein Familiensystem also zusammenhält hat sich auch der ungarische Arzt und Psychotherapeut Iván Böszörményi-Nagy gemacht.

Ein Element unter vielen, das er in seiner Arbeit „Unsichtbare Bindungen“ (Erstausgabe 1973) beschreibt, ist die Loyalität. Diese moralische Instanz stelle „die unsichtbaren, aber starken Fasern (dar), welche die komplizierten Teilchen des Beziehungs-Verhaltens in Familien zusammenhalten“.

Loyalität als Pattex für Familien. Wie kann man sich das vorstellen?

Loyalität in Familien beschreibt Böszörményi-Nagy beruhend auf Faktoren wie Identifizierung mit den Werten der Familie, Sorge um das Weiterbestehen dieser Gemeinheitschaft oder auf der Verbundenheit mit familiären Mythen sowie z. B. Pflichtbewusstsein und Gerechtigkeit.

Jeder, der einmal ungerecht behandelt wurde, weiß, dass es zu einer unserer größten Herausforderungen gehört, damit fertig zu werden.

Gelebte Gerechtigkeit in Familien beschreibt er so: in jeder Familie existiere so etwas wie ein unsichtbares Hauptbuch, das die Verbindlichkeiten der Familienmitglieder untereinander erfasst. Die Konten der einzelnen Familienmitglieder können nun belastet werden, wenn sie Loyalitätshandlungen empfangen oder entlastet werden, wenn die Loyalitätshandlungen erbringen.

Diese Auf- und Abbuchungen passieren natürlich nur auf unbewusster Ebene, werden also nicht ausgesprochen, offen verhandelt, sondern verdeckt, wie beim Kartenspielen sozusagen. Der eigene Kontostand oder die Situation und der Wert des Hauptbuches bildet sich mehr atmosphärisch und mehr in einem Unbehagen oder guten Gefühl ab als in nackten Zahlen. Familienmitglieder spüren sozusagen wie eine magnetische Anziehung (oder auch eine Abwehr oder ein Schuldgefühl), wenn wieder Leistungen erbracht werden müssten oder werden unzufrieden (oder für die anderen ungemütlich), wenn sie einen schlechten Kontostand haben und meinen, dieser müsse bald ausgeglichen werden.

Und jetzt kommt’s: stirbt jemand aus der Familie wird das Konto keineswegs aufgelöst. Nein, generationsübergreifende Verpflichtungen werden einfach weitervererbt – als hochverschuldetes Konto oder vielleicht Vermögen an die nachkommende Generation weitergegeben. Durch die Bindung an das Hauptbuch bleiben also so Verbindungen über Generationen und den physiologischen Tod einzelner hinaus bestehen. Böszörményi-Nagy sieht uns Menschen somit „in einem weitgefächerten ethischen und existenziellen Gleichgewicht mit anderen“.

Spannend ist, dass es ja keine Börse oder keinen Markt gibt, die beziffern, welche Leistung wieviel wert ist. Hier ist es individuell sehr unterschiedlich, welche Loyalitätsleistung teuer und welche wertloser geschätzt würde. Beispielsweise für die Versorgung eines Säuglings, die ja objektiv betrachtet etwas Hochanstrengendes ist (vor allem natürlich für die Väter…), trägt sich das Elternteil oft gar nicht so eine hohe „Abbuchung“ vom persönlichen Konto ein.

Diese sehr subjektive Seite des Kontosystems mache das Konzept unübersichtlich und führe dazu, dass dann manchmal hochverschuldete Konten weitervererbt würden. Und die oder der Betroffene kann nur erahnen bzw. erspüren, dass da noch irgendwas ist…

 

(Aufgegriffen habe ich diese Konzept aus Peter Teuschel’s Buch der Ahnen-Faktor).

Literatur: Teuschel P. Der Ahnen-Faktor. Das emotionale Familienerbe als Auftrag und Chance. Schattauer, Stuttgart 2016.