Viele Menschen fragen sich, was eigentlich der Kern eines psychosomatischen Ansatzes in der Medizin ist. Eine psychische Ursache für körperliche Beschwerden zu suchen? Dem Körper weniger Beachtung zu schenken – und dafür der Seele mehr?
Nein, so einfach ist es nicht. Versuchen wir einmal die Systematik der klassischen Krankheit im biologischen Sinne mit dem Herangehen der psychosomatischen Denkweise zu vergleichen.
Medizin: Im Mittelpunkt steht ein Organ, das krank ist. Diese Krankheit kann durch bestimmte Methoden wie Blutuntersuchung oder Röntgenuntersuchungen festgestellt und durch eine OP, Medikation oder physikalische Maßnahmen behoben werden. Das alles findet auf wissenschaftlicher Basis statt, das heisst, das Vorgehen ist rational geleitet. Der wissenschaftlich fundierte Arzt führt etwas am Patienten (als ein Objekt der Untersuchung und Behandlung) durch, was an den meisten anderen Menschen mit der gleichen Krankheit wiederholbar ist.
Psychosomatische Medizin: Der Körper mit seinen Organen ist nur ein Teilaspekt des menschlichen Subjektes. Diese körperlich-objektive Seite wird genauso ernst genommen wie in der klassischen Medizin. Die Psychosomatik führt aber zusätzlich zur objektiven Seite des Körpers und seiner Organe die subjektive Sicht auf sich und die Welt in die Medizin ein. Das Subjekt denkt selber, bildet Meinungen, hat bestimmte Absichten und bewertet alles, was geschieht. Es hat Emotionen, die auf biografischen Erfahrungen beruhen. So entsteht ein ganzes Weltbild und eine Ausrichtung auf die Welt (die s. g. Intentionalität).
Psychosomatische Medizin ist also klassische Medizin plus eine Ergänzung um die subjektive Sicht auf sich und die Welt.
Warum ist diese Ergänzung um das Subjekt nötig oder sinnvoll?
Nehmen wir einmal an, jemand bekommt starke Bauchschmerzen. In dieser Situation ist es gar nicht zu vermeiden, dass sie oder er sich eine subjektive Meinung zu den Ursachen und Konsequenzen dieser Schmerzen bildet: „Ich glaube, ich muss sofort ins Krankenhaus“ oder aber „Was von alleine kommt, geht auch von alleine – ich warte mal ab“. Jeder Mensch hat eine subjektive Sicht auf seine Krankheit, die sein Handeln und den Umgang mit sich sehr beeinflusst. Früher dachte man, Ärzte müssten Patienten ein wenig zum richtigen, gesunden Verhalten erziehen. Heute weiß man, dass jeder seine eigenen, für ihn geeignete Bewältigung mit einer Erkrankung finden muss, um sie überwinden zu können. Daran hängt das subjektive Wohlbefinden, die Lebensqualität und die Überlebensquote.
Gelingt es z. B. nicht, einen Herzinfarkt seelisch zu verarbeiten, kann zusätzlich eine Depression entstehen. Erweisen ist, dass die Kombination aus Herzinfarkt und Depression die Sterblichkeit erhöht. Das macht die große Wichtigkeit des persönlichen, subjektiven Umgangs mit einer Erkrankung deutlich, wobei Ärzte unbedingt helfen sollen und das in allen Bereichen der Medizin auch tun. In den letzten Jahren zunehmend, da das Wissen um die psychosomatischen Zusammenhänge sich mehr durchsetzt.
Das medizinische Fachgebiet „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ hat sich aufgrund der hohen Spezialisierung der Medizin u. a. den Schwerpunkt auf das Subjekt und seine Bedeutung für Krankheit und Gesundheit gelegt und arbeitet eng mit den vielen anderen Fachgebieten zusammen.
Literatur: Gerd Rudolf, Peter Henningsen. Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik: Kapitel 1.1 Psychosomatische Perspektiven. 7. Aufl., Thieme Verlag: Stuttgart 2013.
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