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Rätselhafte Tranquilizer: über psychosomatische Populär-Literatur vor 45 Jahren

Jürg Wunderli: Rätsel Mensch und moderne Psychosomatik. ABC Verlag Zürich (1970)

Jürg Wunderli: Rätsel Mensch und moderne Psychosomatik. ABC Verlag Zürich (1970)

Da ich mich für die Entwicklung des öffentlichen Verständnisses für Psychosomatik interessiere nehme ich manchmal alte populärwissenschaftliche Literatur darüber zur Hand. Insbesondere ältere Bücher, davon gibt es auch viel mehr als neuere (esoterische Werke einmal ausgenommen).

Aktuell fiel mir „Rätsel Mensch und moderne Psychosomatik“ vom Schweizer Arzt Jürg Wunderli aus dem Jahre 1970 in die Hände. Das Buch verspricht im Klappentext in allgemeinverständlicher Form die Leib-Seele-Beziehungen zu erklären. Und es kündigt an, nicht die „Tiefenpsychologie“ zu strapazieren, was allzu oft der Fall wäre. Es wolle sich auf einfache Dinge wie Mimik, die Seele als Hirnfunktionen und Nahtstellen zwischen Seele und Körper konzentrieren.

So bestätigt sich dann beim Blättern und Querlesen: das Buch beschäftigt sich mit dem, was man heute als Psychophysiologie bezeichnen würde. Es grast Themen wie Lügendetektor, körperliche Konstitutionstypen, das EEG, Nervenzellen, „das Gehirn als Computer“, klassiche Konditionierung und noch einiges mehr von Dingen ab, die damals großes Psychotainment gewesen sein müssen. Natürlich kann und soll man meiner Meinung nach nicht ein 45 Jahre altes Buch rezensieren, sondern den Inhalt eher historisch verstehen. Obgleich dieses eine Werk natürlich nur ein Puzzleteil ist. Besonders interessant erschien mit das Kapitel „Medikamente, welche das Gefühlsleben manipulieren: die Tranquilizer“. Vor allem sprachlich:

Probleme und Konflikte gehören zum Leben wie Essen und Trinken. Das ist heute so; es war immer so und wird immer so sein. Und dennoch hat sich diesbezüglich heute einiges gegenüber früheren Zeiten geändert: Wer noch vor 100, ja vor 30 Jahren seine Sorgen hatte, dem blieb nichts anderes übrig, als sie auszutragen, mit ihnen fertig zu werden, die Konflikte zu bewältigen und nach Lösungen zu suchen. Heute besteht diese Möglichkeit natürlich auch noch. Aber die unangenehme Situation kann auch anderswie gelöst werden: indem nämlich Herr Meier oder Frau Müller Pillen schlucken, welche den gehörigen Abstand zu den Alltagsproblemen heranzaubern.

Dann folgt eine Beschreibung, wie viele hunderte Millionen Dollar Pharmaunternehmen mit den Tranquilizern umsetzen und wie häufig und leichtfüßig sie von den Ärzten verordnet werden. Dann die Frage:

Aber wie wirken denn eigentlich diese Sorgenbrecher?

Es folgt eine Erklärung zum limbischen System als „primitive Gefühlszentrale“, das durch die Medikamente gehemmt werde. Zur medizinischen Anwendung:

Zweifellos gibt es für den Arzt wichtige Gründe, seinen Patienten Tranquilizer zu verschreiben, besonders bei angstbetonten Neurotikern oder funktionellen Störungen ohne Organschaden (…). Was aber für den psychisch kranken oder leidenden Menschen richtig sein kann, ist nicht richtig für den Durchschnittsmenschen, ist nicht richtig für den psychisch völlig normalen Herrn Meier bzw. Frau Müller, welche ihre Probleme und Konflikte haben und durch die Pillen mehr Abstand dazu gewinnen möchten. Man stelle sich einmal Beethoven oder einen Goethe vor als eifrige Tranquilizer-Schlucker!

Weiter beschreibt Wunderli, diese Tabletten seien nur ein Teil einer „immer mehr angeschwollenen Gruppe von Medikamenten, welche das Seelische beeinflussen“.

Was ist aus heutiger Sicht zu den Ausführungen zu sagen? Was „weiß man heute besser“?

Erstens ist die Suchtentwicklung als größte Nebenwirkung der Tranquilizer wie Tavor oder Valium noch nicht erwähnt. Sie beginnt sehr schnell, im Schnitt nach einer 10-14 Tage andauernden Behandlung. Das ist heute bekannt und schränkt die Verwendung von Tranquilizern erheblich ein.

Zweitens wird 1970 eine Indikation insbesondere bei „Neurotikern“ gesehen, also bei Menschen die an inneren Konflikten psychisch oder psychosomatisch erkranken. Heute wissen wir, dass dieser Kern der Erkrankung praktisch nie mir Beruhigungsmittel gelöst werden kann, sondern nur die Symptome zwischenzeitlich verbessern, die Auflösung des eigentlich in der Seele bestehenden Problems dadurch aber deutlich schwieriger wird (denn die Tablette als Pseudolösung wirkt natürlich zunächst einmal recht überzeugend). Der Einsatzbereich der Gruppe von Beruhigungsmitteln ist heutzutage eher der akute Erregungs- oder Angstzustand als Notfall, akute suizidale Krisen, Krampfanfälle und die Angstlösung vor operativen Eingriffen.

Drittens ist die Sprache vor 45 Jahren ganz schön stigmatisierend gewesen: es wird locker mal aus dem Handgelenk zwischen „völlig normal“ und „krank“ unterschieden. Also der völlig normale Herr Müller und die normale Frau Meier – die sind doch ganz normal, psychisch Kranke: das müssen ja andere sein. Dann Goethe und Beethoven, große Künstler, die natürlich nie zu Beruhigungsmitteln gegriffen hätten (heute wissen wir, dass Abhängigkeit auch und gerade vor großen Persönlichkeiten nicht halt macht) …und wenn doch, wären sie ganz einfache „Tranquilizer-Schlucker“ gewesen wären.

Das Schönste kommt zum Schluss. Das Kapitel über Beruhigungsmittel von 1970 endet mit zwei Fotos vom „Aggressiven Makakusaffen vor und nach Verabreichung eines Tranquilizers“. Hier konnte der Leser 1970 Augenzeuge werden, wie aus einem monströsen Biest ein Knuddeläffchen wird (das auf dem zweiten Foto sogar gestreichelt werden kann). Die Fotos wurden dem Autor Wunderli übrigens freundlich bereitgestellt von „Hoffmann – La Roche Basel“. Auf Anfrage bei Roche wollte man die Foto-Freigabe auch gegenüber dem Psychosomatikum-Blog (Version late 2015) gerne wiederholen.

Der Makakusaffe von 1970. Mit freundlicher Genehmigung von La Roche.

Der Makakusaffe von 1970. Mit freundlicher Genehmigung von La Roche.