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Das Unbewusste ist…

…wenn man am gestrigen Samstag mit einer Freundin und den Kindern einen Schneemann baut und dabei versucht, die ärgerlichen Querelen zwischen der Freundin und ihrem Chef zu besprechen. Eigentlich konzentriert man sich aber auf die Kinder und darauf, wo der klebrigste Schnee liegt. Nachdem „er“ per Handyfoto verewigt wurde, wird den Kindern noch eine abschließende Schneeballschlacht abgeleistet – so richtig mit sich auf den Boden werfen. Dieser Aktion fällt dann schließlich der Schneemann zum Opfer – aus ihm werden in einer kannibalistisch anmutenden Szene Wurfgeschosse geformt, bis sein einstiger Standort einem Schlachtfeld gleicht.

Heute ruft die Freundin an, weil es ihr wie Schuppen von Augen fällt, als sie wieder das Handy zur Hand nimmt: Der Schneemann habe exakt ausgesehen, wie ihr Chef.

Vergl. Freud: Das Unbewusste (1915)

Ein erzählendes Fachbuch: „Der Ahnen-Faktor“ von Peter Teuschel

Im Buch „Der Ahnen-Faktor: das emotionale Familienerbe als Auftrag und Chance“ von Dr. Peter Teuschel sehe ich eine ganz neue Gattung von Fachbüchern. Ich würde es, als so etwas wie ein erzählendes Fachbuch bezeichnen – wir kennen eine ähnliche Einordnung im Sachbuch-Bereich. Es wird Fachwissen vermittelt, aber nicht auf dem klassischem Wege des schriftlichen „Referierens“. Vielmehr wird der Leser von Teuschel, der in München als Psychiater und Psychotherapeut niedergelassenen ist, mitgenommen auf die eigene Recherche nach dem ominösen „Ahnen-Faktor“ unserer Kultur und Zeit. Der Autor glaubt, das beschreibt er, dass die Kraft und das Potential des Ahnen-Faktors heutzutage zu gering eingeschätzt würden – in unserem alltäglichen Bewusstsein und erst recht im Bereich psychotherapeutischer Behandlungen.

Das Leben unserer Ahnen hat einen großen Einfluss auf unser eigenes Leben. Das wissen wir heute, trotzdem ist bis zum heutigen Tag die Beschäftigung mit unseren Vorfahren eher stiefmütterlich.

– Peter Teuschel –

Das besondere und ansprechende auf der Reise des Autors ist, dass er keine Scheuklappen auf hat, sondern ganz unvoreingenommen schaut, wohin die Bewusstheit und Verbindung zu unseren Vorfahren abgedrängt sein könnte. Anstatt es gleich abzutun beschreibt er, was er findet im Bereich der Mystik und Esoterik: er sieht sich um in den Sphären des Tarots, der Astrologie, des Schamanismus. Er schaut sich antike Kulturen und Naturvölker an und nimmt zwei unbekannte, aber hochspannende psychoanalytische Konzepte in Anspruch, nachdem er Klassiker wie Freud und Jung zu Rate gezogen hat. Einen wichtigen Bereich nimmt dann die gut verständliche Schilderung über biologische Mechanismen, wie die sich im Aufwind befindliche Epigenetik ein.

Schließlich gelingt es Peter Teuschel dann auch noch die Brücke zu schlagen zu diversen Fallbeispielen aus seiner Praxis sowie zu praktischen Hinweisen für klinisch tätige Psychotherapeuten, aber auch für jedermann, der sich seinen Ahnen nähern möchte und nicht in der Profession unterwegs ist. Es wird genau beschrieben, über welche Lebensbereiche sich der Ahnen-Faktor (gewinnbringend oder hemmend) in den Alltag einbringt: z. B. Familiengeheimnisse, Tabus, Erwartungen, Erfolg, Stolz, gutes Gelingen…

Insgesamt ein Fachbuch, das man lesen kann wie eine Erzählung, wie ein Abenteuer, und bei dem man zudem noch eine Menge mitnimmt: Ich habe schon während des Lesens bemerkt, wie die Neugier auf mögliche Ahnen-Aspekte meiner eigenen Patienten wuchs – und natürlich auf meine eigenen Vorfahren. Das Buch ist eine Anstiftung einmal weiter zu denken in Richtung Ahnen und demütig auf die kurze Zeit zu blicken, die wir nun tatsächlich physisch auf dieser Erde sind. Diese Tendenz in der Psychotherapie bleibt nicht unbegründet: Nachdem eine Menge über die transgenerationale Weitergabe von traumatischen Erfahrungen bekannt ist, machte jüngst die Epigenetik für die biologische Seite klar, dass sich durch unseren „Lebensstil“ und unsere Erfahrungen Gene verändern und dann erst weitergegeben werden.

Eine Art von Buch, das es öfter geben sollte.

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Rätselhafte Tranquilizer: über psychosomatische Populär-Literatur vor 45 Jahren

Jürg Wunderli: Rätsel Mensch und moderne Psychosomatik. ABC Verlag Zürich (1970)

Jürg Wunderli: Rätsel Mensch und moderne Psychosomatik. ABC Verlag Zürich (1970)

Da ich mich für die Entwicklung des öffentlichen Verständnisses für Psychosomatik interessiere nehme ich manchmal alte populärwissenschaftliche Literatur darüber zur Hand. Insbesondere ältere Bücher, davon gibt es auch viel mehr als neuere (esoterische Werke einmal ausgenommen).

Aktuell fiel mir „Rätsel Mensch und moderne Psychosomatik“ vom Schweizer Arzt Jürg Wunderli aus dem Jahre 1970 in die Hände. Das Buch verspricht im Klappentext in allgemeinverständlicher Form die Leib-Seele-Beziehungen zu erklären. Und es kündigt an, nicht die „Tiefenpsychologie“ zu strapazieren, was allzu oft der Fall wäre. Es wolle sich auf einfache Dinge wie Mimik, die Seele als Hirnfunktionen und Nahtstellen zwischen Seele und Körper konzentrieren.

So bestätigt sich dann beim Blättern und Querlesen: das Buch beschäftigt sich mit dem, was man heute als Psychophysiologie bezeichnen würde. Es grast Themen wie Lügendetektor, körperliche Konstitutionstypen, das EEG, Nervenzellen, „das Gehirn als Computer“, klassiche Konditionierung und noch einiges mehr von Dingen ab, die damals großes Psychotainment gewesen sein müssen. Natürlich kann und soll man meiner Meinung nach nicht ein 45 Jahre altes Buch rezensieren, sondern den Inhalt eher historisch verstehen. Obgleich dieses eine Werk natürlich nur ein Puzzleteil ist. Besonders interessant erschien mit das Kapitel „Medikamente, welche das Gefühlsleben manipulieren: die Tranquilizer“. Vor allem sprachlich:

Probleme und Konflikte gehören zum Leben wie Essen und Trinken. Das ist heute so; es war immer so und wird immer so sein. Und dennoch hat sich diesbezüglich heute einiges gegenüber früheren Zeiten geändert: Wer noch vor 100, ja vor 30 Jahren seine Sorgen hatte, dem blieb nichts anderes übrig, als sie auszutragen, mit ihnen fertig zu werden, die Konflikte zu bewältigen und nach Lösungen zu suchen. Heute besteht diese Möglichkeit natürlich auch noch. Aber die unangenehme Situation kann auch anderswie gelöst werden: indem nämlich Herr Meier oder Frau Müller Pillen schlucken, welche den gehörigen Abstand zu den Alltagsproblemen heranzaubern.

Dann folgt eine Beschreibung, wie viele hunderte Millionen Dollar Pharmaunternehmen mit den Tranquilizern umsetzen und wie häufig und leichtfüßig sie von den Ärzten verordnet werden. Dann die Frage:

Aber wie wirken denn eigentlich diese Sorgenbrecher?

Es folgt eine Erklärung zum limbischen System als „primitive Gefühlszentrale“, das durch die Medikamente gehemmt werde. Zur medizinischen Anwendung:

Zweifellos gibt es für den Arzt wichtige Gründe, seinen Patienten Tranquilizer zu verschreiben, besonders bei angstbetonten Neurotikern oder funktionellen Störungen ohne Organschaden (…). Was aber für den psychisch kranken oder leidenden Menschen richtig sein kann, ist nicht richtig für den Durchschnittsmenschen, ist nicht richtig für den psychisch völlig normalen Herrn Meier bzw. Frau Müller, welche ihre Probleme und Konflikte haben und durch die Pillen mehr Abstand dazu gewinnen möchten. Man stelle sich einmal Beethoven oder einen Goethe vor als eifrige Tranquilizer-Schlucker!

Weiter beschreibt Wunderli, diese Tabletten seien nur ein Teil einer „immer mehr angeschwollenen Gruppe von Medikamenten, welche das Seelische beeinflussen“.

Was ist aus heutiger Sicht zu den Ausführungen zu sagen? Was „weiß man heute besser“?

Erstens ist die Suchtentwicklung als größte Nebenwirkung der Tranquilizer wie Tavor oder Valium noch nicht erwähnt. Sie beginnt sehr schnell, im Schnitt nach einer 10-14 Tage andauernden Behandlung. Das ist heute bekannt und schränkt die Verwendung von Tranquilizern erheblich ein.

Zweitens wird 1970 eine Indikation insbesondere bei „Neurotikern“ gesehen, also bei Menschen die an inneren Konflikten psychisch oder psychosomatisch erkranken. Heute wissen wir, dass dieser Kern der Erkrankung praktisch nie mir Beruhigungsmittel gelöst werden kann, sondern nur die Symptome zwischenzeitlich verbessern, die Auflösung des eigentlich in der Seele bestehenden Problems dadurch aber deutlich schwieriger wird (denn die Tablette als Pseudolösung wirkt natürlich zunächst einmal recht überzeugend). Der Einsatzbereich der Gruppe von Beruhigungsmitteln ist heutzutage eher der akute Erregungs- oder Angstzustand als Notfall, akute suizidale Krisen, Krampfanfälle und die Angstlösung vor operativen Eingriffen.

Drittens ist die Sprache vor 45 Jahren ganz schön stigmatisierend gewesen: es wird locker mal aus dem Handgelenk zwischen „völlig normal“ und „krank“ unterschieden. Also der völlig normale Herr Müller und die normale Frau Meier – die sind doch ganz normal, psychisch Kranke: das müssen ja andere sein. Dann Goethe und Beethoven, große Künstler, die natürlich nie zu Beruhigungsmitteln gegriffen hätten (heute wissen wir, dass Abhängigkeit auch und gerade vor großen Persönlichkeiten nicht halt macht) …und wenn doch, wären sie ganz einfache „Tranquilizer-Schlucker“ gewesen wären.

Das Schönste kommt zum Schluss. Das Kapitel über Beruhigungsmittel von 1970 endet mit zwei Fotos vom „Aggressiven Makakusaffen vor und nach Verabreichung eines Tranquilizers“. Hier konnte der Leser 1970 Augenzeuge werden, wie aus einem monströsen Biest ein Knuddeläffchen wird (das auf dem zweiten Foto sogar gestreichelt werden kann). Die Fotos wurden dem Autor Wunderli übrigens freundlich bereitgestellt von „Hoffmann – La Roche Basel“. Auf Anfrage bei Roche wollte man die Foto-Freigabe auch gegenüber dem Psychosomatikum-Blog (Version late 2015) gerne wiederholen.

Der Makakusaffe von 1970. Mit freundlicher Genehmigung von La Roche.

Der Makakusaffe von 1970. Mit freundlicher Genehmigung von La Roche.

Die Depressionen der Ärzte in Weiterbildung

Wie das Deutsche Ärzteblatt am 9. Dezember 2015 mitgeteilt hat haben sich depressive Symptome und manifeste Depressionen während der klinischen Weiterbildungszeit junger Ärzte weiter ausgebreitet. Es wurden im Rahmen einer Metaanalyse aus Boston, die 54 bestehende Studien zu der Problematik untersucht hat, Informationen zur seelischen Gesundheit von 17.560 Ärzten verarbeitet. Es wurden Daten aus Europa, Amerika, Asien und Afrika ausgewertet.

Die Prävalenz depressiver Störungen unter den Ärzten lag bei 29%. Deutlich wurde, dass die Anforderungen der ersten Berufsjahre für viele Beschwerden verantwortlich sind, da hier die Prävalenz um 15,8% höher lag. In den letzten Jahren hat die Häufigkeit um fast 1% pro Jahr zugenommen – die Situation scheint sich also zu verschärfen.

Verglichen mit der Allgemeinbevölkerung ist die Inanspruchnahme psychiatrischer oder psychosomatischer Hilfe gering, was an Zeitmangel und Verleugnung liegen mag.

Ich bleibe dabei, dass es gesundheitserhaltend ist, sich rechtzeitig mit der eigenen Zeit als Arzt in Weiterbildung zu beschäftigen. Mein Buch Berufseinstieg Arzt, das 2014 bei Schattauer erschienen ist, beschäftigt sich genau mit diesen schwierigen Themen: eigene Ziele im Blick zu behalten, Überarbeitung und nicht-handelbare Belastungen vorzubeugen, persönliche Interessen in der Klinik durchzusetzen und eine Balance zwischen Arbeit und Privatleben zu finden.

Ein Interview mit mir zu dem Thema finden Sie beim Schattauer Verlag.

Psychosomatik und die subjektive Sicht auf die Welt

Viele Menschen fragen sich, was eigentlich der Kern eines psychosomatischen Ansatzes in der Medizin ist. Eine psychische Ursache für körperliche Beschwerden zu suchen? Dem Körper weniger Beachtung zu schenken – und dafür der Seele mehr?

Nein, so einfach ist es nicht. Versuchen wir einmal die Systematik der klassischen Krankheit im biologischen Sinne mit dem Herangehen der psychosomatischen Denkweise zu vergleichen.

Medizin: Im Mittelpunkt steht ein Organ, das krank ist. Diese Krankheit kann durch bestimmte Methoden wie Blutuntersuchung oder Röntgenuntersuchungen festgestellt und durch eine OP, Medikation oder physikalische Maßnahmen behoben werden. Das alles findet auf wissenschaftlicher Basis statt, das heisst, das Vorgehen ist rational geleitet. Der wissenschaftlich fundierte Arzt führt etwas am Patienten (als ein Objekt der Untersuchung und Behandlung) durch, was an den meisten anderen Menschen mit der gleichen Krankheit wiederholbar ist.

Psychosomatische Medizin: Der Körper mit seinen Organen ist nur ein Teilaspekt des menschlichen Subjektes. Diese körperlich-objektive Seite wird genauso ernst genommen wie in der klassischen Medizin. Die Psychosomatik führt aber zusätzlich zur objektiven Seite des Körpers und seiner Organe die subjektive Sicht auf sich und die Welt in die Medizin ein. Das Subjekt denkt selber, bildet Meinungen, hat bestimmte Absichten und bewertet alles, was geschieht. Es hat Emotionen, die auf biografischen Erfahrungen beruhen. So entsteht ein ganzes Weltbild und eine Ausrichtung auf die Welt (die s. g. Intentionalität).

Psychosomatische Medizin ist also klassische Medizin plus eine Ergänzung um die subjektive Sicht auf sich und die Welt.

Warum ist diese Ergänzung um das Subjekt nötig oder sinnvoll?

Nehmen wir einmal an, jemand bekommt starke Bauchschmerzen. In dieser Situation ist es gar nicht zu vermeiden, dass sie oder er sich eine subjektive Meinung zu den Ursachen und Konsequenzen dieser Schmerzen bildet: „Ich glaube, ich muss sofort ins Krankenhaus“ oder aber „Was von alleine kommt, geht auch von alleine – ich warte mal ab“. Jeder Mensch hat eine subjektive Sicht auf seine Krankheit, die sein Handeln und den Umgang mit sich sehr beeinflusst. Früher dachte man, Ärzte müssten Patienten ein wenig zum richtigen, gesunden Verhalten erziehen. Heute weiß man, dass jeder seine eigenen, für ihn geeignete Bewältigung mit einer Erkrankung finden muss, um sie überwinden zu können. Daran hängt das subjektive Wohlbefinden, die Lebensqualität und die Überlebensquote.

Gelingt es z. B. nicht, einen Herzinfarkt seelisch zu verarbeiten, kann zusätzlich eine Depression entstehen. Erweisen ist, dass die Kombination aus Herzinfarkt und Depression die Sterblichkeit erhöht. Das macht die große Wichtigkeit des persönlichen, subjektiven Umgangs mit einer Erkrankung deutlich, wobei Ärzte unbedingt helfen sollen und das in allen Bereichen der Medizin auch tun. In den letzten Jahren zunehmend, da das Wissen um die psychosomatischen Zusammenhänge sich mehr durchsetzt.

Das medizinische Fachgebiet „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ hat sich aufgrund der hohen Spezialisierung der Medizin u. a. den Schwerpunkt auf das Subjekt und seine Bedeutung für Krankheit und Gesundheit gelegt und arbeitet eng mit den vielen anderen Fachgebieten zusammen.

Literatur: Gerd Rudolf, Peter Henningsen. Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik: Kapitel 1.1 Psychosomatische Perspektiven. 7. Aufl., Thieme Verlag: Stuttgart 2013.

Wider besseres Wissen: zur Stigmatisierung psychisch Kranker

In dem von Jan Dreher und mir kürzlich aufgezeichneten Podcast (PsychCast 014) sprachen wir unter anderem über die Stigmatisierung psychisch Erkrankter. Meiner Meinung nach ein Thema, über das man gar nicht genug sprechen oder schreiben kann. Denn psychisch und psychosomatisch Kranken wird auch heute noch die Teilnahme an der Gesellschaft durch die systematische Erzeugung einer Distanz zu ihnen erschwert.

Warum?

Weil Stigmata sich hartnäckig in unserer Gesellschaft halten, obwohl die Evidenz zu vielen Krankheiten eindeutig zeigt: auch psychische Krankheiten treffen Menschen unfreiwillig. Und: auch psychische oder psychosomatische Krankheiten sind echte Krankheiten. Ihre Beschwerden und Schmerzen vermitteln sich durch die selben Transmittersysteme und Hirnareale wie Krankheiten mit körperlicher Ursache. Der Unterschied ist: in der Psychosomatischen Medizin beschäftigen wir uns mit den Funktionsstörungen von Organen oder einem gestörten emotionalen Erleben – in der somatischen Medizin mit den s. g. „organmorphologischen“ Defekten (bei denen eine Gewebeschädigung eines Organes eingetreten ist).

Beides führt zu Leidenszuständen und beides ist behandelbar. Weshalb wird mit zweierlei Maß gemessen?

Das liegt an den „Sozialen Repräsentationen“. Sie bestimmen, wie wir unsere Welt sehen und damit unser Handeln. Sie sind so etwas wie Mythen oder Glaubenssysteme – verpackt im modernen, zeitgenössischen Gewand. Diese soziale Wirklichkeit ist nicht durch wissenschaftliche Erkenntnisse festgelegt, sondern wird ständig durch Kommunikation mit der Umgebung reproduziert. Sie kommen vor allem zum Tragen, wenn präzises Fachwissen fehlt oder schwer vermittelbar ist. Unter Rückbezug auf einzelne „Wissensschnipsel“  (was man mal so gehört hat) kann man dann ein Thema einordnen, sich eine Meinung dazu bilden und darüber kommunizieren. So werden Informationen von einer Gemeinschaft verinnerlicht und wechselseitig bestätigt. Oft in Nebensätzen. Oft als Metapher. Meistens beiläufig. Nie präzise.

Über körperliche Krankheiten einerseits und psychische / psychosomatische Krankheiten andererseits bestehen sehr unterschiedliche Soziale Repräsentationen. Denn gegen die sich selbst immer wieder bestätigenden Vorurteile kommt die logisch geleitete Wissensvermittlung nur im Schneckentempo an.

Wie können wir Stigmatisierung abbauen?

Was wir tun können ist, diese unterschiedliche Wahrnehmung körperlicher und psychischer Leidenszustände immer wieder transparent zu machen. Jeder der eigene Erfahrungen mit psychischen Leiden hat, kann darüber sprechen, schreiben, singen, Theater spielen (wiederum auf die Gefahr, stigmatisiert zu werden). Auf dass die alten Mythen eines Tages überschrieben werden!

Die Kraft der Mehrstimmigkeit in „Nicht alles schlucken“: keine Filmkritik

In dem neuen Kinofilm „Nicht alles schlucken“ wird dokumentiert, wie verschiedene Menschen in einer Gruppe zusammensitzen und über ihr Erleben, ihre Erfahrungen mit der Psychiatrie berichten. Darüber, was es bedeutet, seelisch krank zu sein und was für ein Behandlungssystem sie vorfinden.

Keine Sprecherstimme aus dem Off, keine Einblendungen von Namen und Funktion, keine Musik. Nichts und niemand, der oder das einem hier suggerieren kann, wo die Wahrheit wohnt. Die Menschen, die im Film vorkommen, auf der Premiere „Protagonisten“ genannt, sind Patienten, Angehörige, Pflegekräfte, Sozialarbeiter, Ärzte… der Zuschauer kann sie teilweise kaum voneinander unterscheiden. Ein Wochenende hätten die Dreharbeiten in einem schlichten Raum an der Berliner Charité gedauert sowie viele Tage an Einzelinterviews. Jeder habe soviel berichten dürfen, wie er gewollt habe, berichtet einer der Teilnehmer.

Entstanden ist ein für unseren schnelllebigen Zeitgeist außergewöhnliches Dokument, das es dem Zuschauer nicht abnimmt, aufkommende Gefühle und Fragen auszuhalten. Ein Film, der nicht abrunden oder erklären will, der dem Empfänger keinen roten Faden in typischer Doku-Manier anbietet, bei dem man nur anbeißen muss. Die Gruppe, die im klassischen Stuhlkreis zusammensitzt, ist wie sie ist. Im Sinne der Mehrstimmigkeit von Gruppen blitzen zu jeder Zeit Wirklichkeiten auf, die – ganz medienuntypisch – nicht zu hinterfragen sind, da sie eben wahr sind, für denjenigen der sie mit großem Mut und spürbaren Gefühlen von Verzweiflung, Trauer oder Hoffnung vorträgt.

Die Filmemacher heißen Piet Stolz, Psychiater und Psychoanalytiker und Jana Kalms, Fernsehautorin und Regisseurin, die auch bereits für einen Film über Psychosen namens Raum 4070 zusammenarbeiteten. Psychiater Stolz war gerührt auf der Premiere am Donnerstag, den 28.05.2015 im Berliner Kino Babylon: Aufklärung – auch über Mißstände in der Psychiatrie – scheinen ihm ein ernstes Anliegen zu sein. Er erklärte nach dem Film: „Zu viel Medikamente sind Murks, sie knallen auf’s Gehirn, nicht auf die Seele, die machen sie tot“. Die gängigen Behandlungsmethoden der Psychiatrie seien ein „Irrweg seit 200 Jahren“.

Dann bezieht sich Piet Stolz auf einige Stellen im Film, in denen deutlich wird: Je mehr gute Beziehung zwischen Behandlern und Patienten besteht, desto weniger Medikamente seien notwendig.

Man könnte sagen, gute Beziehungen waren das, was sich alle Protagonisten im Film wünschten. Es gab aber sicher noch viel mehr, was die Gruppe und jeder Einzelne an Hoffnungen und Ängsten hegt. Durch die Machart des Filmes bleibt das Medium sehr im Hintergrund, das Menschliche aber tritt von der Leinwand hervor. Dem Zuschauer wird klar, dass hier jeder auf beiden Seiten der Leinwand sitzen könnte. Kein Platz für eine Filmkritik.

www.nichtallesschlucken.de

 

Premiere „Nicht alles schlucken“ im Babylon Berlin

 

Ensemble „Nicht alles schlucken“