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Der Antidepressiva-Reflex

Mal einfach gedacht: Wenn einer eine Infektion hat, gibt man ihm ein Antiinfektivum. Gegen Vergiftungen helfen Gegengifte (Antidots), gegen Terror setzt man Anti-Terror-Einheiten ein, gegen Faschisten machen Antifaschisten mobil. Und was tut man gegen eine Depression? Klar: Antidepressiva geben. Oder?

Sprache verführt

Dass hier Sprache verführt und man dem immer noch gesellschaftlich tief verankerten Irrtum nach einfachen, mechanistischen Ursache-Wirkungs-Prinzipien aufsitzt, wird schnell erkennbar. Ihnen fallen sicher sofort einige Infektionen ein, bei denen man im klinischen Alltag keine Antiinfektiva gibt, da sie nichts nutzen oder ihr Nutzen nicht die Nachteile überwiegt.

Allgemein ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, dass Sprache unser Denken prägt und Denken Vereinfachungen braucht. Doch in folgendem Zusammenhang gerate ich zunehmend ins Zweifeln:

Der Antidepressiva-Reflex

Die Ursachen depressiver Erkrankungen sind sehr inhomogen, komplex und vielschichtig sowie häufig durch Komorbidität (mit)geprägt. Entsprechend differenziert ist die Wahl des Behandlungsverfahrens zu betreiben.

Dennoch höre ich als Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie meistens die eine Frage von Mitbehandlern, MDK und Behörden:

Warum hat der Patient kein Antidepressivum?

Diese verführerische Frage nach dem scheinbar Naheliegenden taufe ich den Antidepressiva-Reflex. Immer, wenn sie mir gestellt wird, macht sich kurz das Märchen von der Depression als Gift und dem Antidepressivum als Gegengift breit. Gesponsert – nehme ich an – von der Macht der Sprache. Studien nämlich zeigen immer deutlicher: der Placebo-Effekt spielt bei den Antidepressiva eine große Rolle. Und antidepressiv wirken Dinge wie Sport oder eine gute therapeutische Beziehung als Korrektiv für negative Bindungserfahrungen mindestens genauso stark.

Sozialer Druck als Ursache?

Die Depression ist eine Krankheit, die oft zu langen Zeiten der Arbeitsunfähigkeit führt: eine mittelgradige depressive Episode z.B. zu 75 Tagen im Schnitt, eine rezidivierende mittelgradige Episode zu fast 90 Tagen. Das Wort „mittelgradig“ hört sich nicht so ganz schlimm an, beschreibt jedoch in der Praxis oft ein schweres Krankheitsbild mit großen Einschränkungen und hohem Leidensdruck – und langer Krankschreibung.

Aufgrund der Dauer ihrer Erkrankung geraten viele Patienten in den Krankengeldbezug, erhalten also eine Lohnersatzleistung. Beim Patienten, bei den Krankenkassen, beim MDK, bei den Mitbehandlern besteht ein gewisser Druck: Lösungen für eine schnelle Gesundung müssen her, und zwar schnell. Die flächendeckend verinnerlichte Formel scheint zu lauten: „Depressive Episode + Antidepressivum = Arbeitsfähigkeit“.

Die Lange der Dauer einer depressiven Erkrankungsphase liegt jedoch vielmehr in der Natur, in der Langsamkeit des Seelenlebens und seiner Heilungsfähigkeit statt in einer „versäumten“ Psychopharmakotherapie. So wirkt das Ganze dann jedoch häufig nach außen.

Depressionsbehandlung ohne Reflex

Die Wahrheit ist, dass sich Ursachen einer Depression in einer gründlichen psychosomatischen Untersuchung durchaus differenzieren lassen. Diagnostik-Dauer beim Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie: etwa 4 Termine à 50 Minuten – schneller ist die Seele leider nicht. Für den individuellen Fall lassen sich dann durchaus intrapsychische, soziale und somatische Ursachen differenzieren. Auch für die Psychogenese von Erkrankungen lassen sich Kriterien erfassen und auswerten: durch die Sachinformationen des Patienten, durch das szenische Verstehen der Patient-Arzt-Interaktion. Und durch das Einordnen des heutigen Denkens, Fühlens und Handelns in einen biographischen Kontext sowie durch die genaue Ermittlung des eine Symptomatik auslösenden Momentes.

Lassen sich psychodynamische Ursachen für eine Depression ermitteln und stellen diese für Patient und Arzt eine gemeinsame Arbeitsgrundlage dar, ist eine psychotherapeutische Behandlung und nicht die medikamentöse Therapie sicher der Goldstandard. Entgegen vieler Behauptungen fordert die S3-Leitlinie übrigens nichts anderes: bei der leichten Episode erstmal watchful waiting, bei der mittelgradigen Episode Psychotherapie oder Medikation und bei der schweren die Kombination Somato- und Psychotherapie.

Ratio sollte ausschlaggebend sein

Dieser Text möchte die medikamentösen Möglichkeiten in der Behandlung depressiver Erkrankungen keineswegs verteufeln. Im Gegenteil. Sie können nötig und richtig sein. Es ist gut, dass wir die Substanzen auf der einen Seite, und die Effekte von Selbsterkenntnis und innerer Veränderung durch korrigierende emotionale Erfahrungen auf der anderen Seite, zur Therapie nutzen können.

Bei der gründlichen Behandlungsplanung im Sinne des Patienten sollten wir uns von der Wucht des Antidepressiva-Reflexes nicht leiten lassen.

Quellen:
TK Depressionsatlas 2015
S3 Leitlinie Depression
Kirsch-Studie

Dieser Artikel ist auch auf DocCheck.com erschienen.

Foto: A. Kugelstadt

Hypochondrie: das Böse im Körper?

Kürzlich haben mein Freund Jan Dreher und ich einen PsychCast zum Thema Hypochondrie – eine ernste Erkrankung aufgenommen, in dem wir über verschiedene Theorien zum Krankheitshintergrund sprachen.

Der im Jahr 2015 verstorbene, in der „Psycho-Szene“ sehr bekannte Psychiater und Psychoanalytiker Stavros Mentzos veröffentlichte in einem seiner jüngsten Werke („Lehrbuch der Psychodynamik“) einige weitere, sehr griffige Theorien dazu.

Den „hypochondrischen Modus“ z. B. beschreibt er als eine mögliche Form der Angstabwehr, die zwar wieder in Angst mündet, aber als Projektion auf einen anderen Schauplatz als den eigentlichen, nämlich den Körper. Hier kann sie nun scheinbar durch Arztbesuche oder verschiedene Untersuchen und Ausschlussdiagnostik gebändigt werden, was erfahrungsgemäß jedoch nicht gelingt. Denn die Symptomatik ist wie immer bei den Neurosen nur ein (fauler) Kompromiss.

Am besten bewährt habe sich aus Mentzos Sicht

(die Hypochondrie als) Annahme einer Projektion des Negativen, des Bösen in der Körper, also im somatischen Projektionsfeld (…). Hier wird also der Körper als ein ambivalentes Objekt empfunden, in den man den bösen eigenen Anteil projiziert.

Mein PsychCast-Mitherausgeber Jan fragt an solchen Stellen gerne, wie die Relevanz für den klinischen Alltag und die Behandlung aussehe, was ich sehr richtig finde. Bei Theorien wie diesen, die noch keinen therapeutischen Ansatz beinhalten, würde ich antworten, dass es mit ihrer Hilfe möglich wird, von der bewussten und zwischenmenschlichen Kommunikation, nämlich der wiederholten sorgenvollen Symptomschilderung einmal wegzukommen und weiter zu denken. Das vordergründig Vorgebrachte führt bei der Hypochondrie nämlich häufig zum Rückzug der hilflosen Ärzte. Führt man stattdessen behutsam ein Gespräch mit dem Fokus auf mögliche negative oder aggressive innere Anteile, die isoliert werden und sich im hypochondrischen Symptom wiederfinden, kann eine solche Wendung fruchtbare Erkenntnisse erbringen.

 

Literatur: Mentzos S. Lehrbuch der Psychodynamik. 7. Aufl., Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen 2015.

PsychCast – lasst uns reden!

Ich freue mich sehr, Jan Dreher kennengelernt zu haben, mit dem ich mich ab sofort 14-tägig über spannende Themen aus der Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie austauschen darf.

Wir haben nämlich eine Gesprächsreihe in Form eines Podcasts ins Leben gerufen, der den Austausch über psychische und psychosomatische Zusammenhänge und Krankheiten für Fachleute, aber auch für Laien verstärken soll. Entsprechend werden wir auf verschiedenen Wegen auch um Diskussionsbeiträge anderer Akteure bitten um allen – natürlich auch uns – neue Perspektiven zu ermöglichen .

Jan Dreher ist Chefarzt einer psychiatrischen Akutklinik, betreibt bereits mehrere Jahre sein sehr beliebtes Blog psychiatrietogo und hat kürzlich ein Psychopharma-Buch im Schattauer Verlag veröffentlicht.

In der ersten, frisch erschienenen Sendung geht es um Kommunikation, vor allem im Krankenhaus und in der Psychotherapie. In 14 Tagen wird es um die Stationäre Psychotherapie als Behandlungsoption psychischer Erkrankungen gehen. Unser Podcast ist keine Fortbildung, sondern eher ein Gespräch, das Themen anreißt – wir lassen uns von dem leiten, was uns gerade interessiert und neugierig macht.

Der Podcast ist unter www.psychcast.de zu finden.

Auf einen konstruktiven Austausch!